1830-1871 – Arbeiterbewegung im preußischen Halberstadt

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in Halberstadt noch keine Industrie. In der Stadt und auch in den umliegenden Gemeinden entstanden allmählich Gewerke, die sich mit der Erzeugung des unmittelbaren Bedarfs der Bevölkerung befaßten. Das bäuerliche Umfeld lieferte dazu die Rohmaterialien. Daneben blühte auch der Handel auf, weil die Bauern des Umlandes die Produkte ihrer eigenen Landwirtschaft auf den städtischen Markt lieferten und viele Händler am Nordharzrand entlangzogen, um in der Stadt Halberstadt ihre Waren abzusetzen.

In der Stadt Halberstadt entstanden so die ersten Manufakturen, die landwirtschaftliche Produkte verarbeiteten. Um 1783 begann die Industrialisierung im Kreis Halberstadt. Einige Fabriken entstanden, so die Essigfabrik von Klamroths, eine Knochenmühle und mehrere Zuckerfabriken. Die Industrialisierung breitete sich rasch aus. Von Bremen kommend wurden verschiedene Tuchfabriken in der Stadt gegründet. Wegen der günstigen Beschaffung von Arbeitskräften und der niedrigen Löhne breiteten die Unternehmen sich schnell aus.
Halberstadt besaß um 1840 folgende Betriebe:

Zwei Zuckerfabriken, eine chemische Fabrik, zwei Tapetenfabriken, drei Tabakfabriken mit 70 Arbeitern, vier Spiritusfabriken mit 25 Arbeitern, zwei Ölraffinerien, sechs Branntweinbrennereien, 28 Bierbrauereien und 12 Handschuhfabriken, deren Ursprünge bereits im 18. Jahrhundert liegen. All diese Fabriken hatten den Charakter von Kleinbetrieben.
Die wegen ihres Glaubens aus Frankreich ausgewiesenen Hugenotten bereicherten mit ihren Handfertigkeiten und Organisationstalent die aufkommende Kleinindustrie. Schnell wuchsen Handwerksbetriebe und Manufakturen zu kleinen und größeren Betrieben heran, die bis über 100 Arbeiter beschäftigten.
Auf der einen Seite wuchs ein finanziell gutgestelltes Bürgertum heran, auf der anderen Seite aber sank auch die Arbeitnehmerschaft in das „Proletarierdasein“ zurück. Die Auswanderung nach Amerika setzte ein und zerstörte dadurch zahlreiche Familienbande.

In Halberstadt wurde deshalb ein Armenhaus errichtet, in dem die Menschen Zuflucht vor dem Hunger fanden. Bis zu tausend Arme wurde hier täglich verpflegt, um die sich in der Stadt ausbreitende Bettelei einzugrenzen.

Am 1.Oktober 1841 eröffnete Heinrich Heine, ein Hutmacher, der auf der Wanderschaft hier „hängen“ geblieben war, seine Hutmanufaktur. Mitten im Zentrum der Stadt, im Erdgeschoß des Eckhauses Fischmarkt – Breiter Weg, richtete er seine Werkstatt ein. Aus der Umgebung besorgte er sich den Kupferkessel, das entsprechende Handwerkszeug und die nötige Wolle.
Mit dem Anschluß Halberstadts an das entstehende Eisenbahnnetz nach Magdeburg im Jahre 1843 und dessen Erweiterung im Nordharzgebiet erschlossen sich neue Möglichkeiten der Produktion von Gütern aller Art. Auch der Ausbau von Landstraßen und Chausseen ermöglichte eine Ausweitung des Handels.
In diese Zeit fallen aber auch die Leidensperioden der werktätigen Bevölkerung, die ihre Arbeitskraft für einen Hungerlohn verkaufen mußte, während die Preise für Lebensmittel ständig anstiegen.
Es ist deshalb verständlich, daß sich die Arbeiter zusammenschlossen, um für eine Aufbesserung ihrer Löhne und der Verkürzung ihrer bis zu 16 Stunden währenden Arbeitszeit zu streiken. Im Jahre 1842 entlud sich der Zorn der Eisenbahnarbeiter an der Vienenburger Strecke an einem Tageslohn von 15 Groschen. Soldaten schlugen das Aufbegehren blutig nieder. Während die Betriebe hohe Dividende zahlten, hungerten die Arbeiter. „Die Industrialisierung machte zur Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Halberstadt rasche Fortschritte. Im Jahre 1847 zählte die Stadt Halberstadt bereits 19.751 Einwohner. Davon waren 1.857 selbstständige Gewerbetreibende in 141 verschiedenen Berufen. An erster Stelle rangierte die Nahrungs- und Genußmittelproduktion mit 40 Betrieben. Ihr folgten 31 Textil- und Bekleidungsbetriebe und Lederfabriken. Ferner waren 29 Metallbetriebe, 8 Druckereien, 7 chemische Produktionsbetriebe und 3 Bauberiebe vorhanden.“ (Nach Ruhe „Harz und Bruch“ 9/1957) Allein im Handschuhmachergewerbe waren im Jahre 1848 in 16 Fabriken über 60 Gehilfen und viele Hunderte Näherinnen tätig.
Die Missernten im Jahre 1847 machten dieses Jahr zu einem Hungerjahr. K. Heinrich-Heine schreibt in seinem Buch „Damals in Halberstadt“: „Notlage, Geldmangel und Arbeitslosigkeit bedrückten Stadt und Land. Die Preise der wichtigsten Volksnahrungsmittel, sogar für Kartoffeln, wurden für den einfachen Mann unerschwinglich. Die dumpfe Erbitterung der Armen entlädt sich in Lebensmittelkrawallen und regelrechten Hungerrevolten. Der „Halberstädter Kartoffelkrieg“ brach aus. Am 17. April 1847 kommt es zu Plünderungen auf dem Markt. Stände und Körbe werden umgeworfen und auf dem Bahnhof werden Lebensmitteltransporte mit Kartoffeln und Getreide geplündert.”
Als im März 1848 die Revolution ausbricht, versammelten sich auch in Halberstadt die Arbeiter in Gruppen. Das Saatkorn für eine organisierte Arbeiterschaft schien aufzugehen.
Dr. Horst Scholke schreibt in seinem Buch „Halberstadt“ (Verlag Seemann 1974:)“ Auch die bürgerlich-demokratische Revolution ging an Halberstadt nicht spurlos  vorüber, sondern bewegte sowohl das Bürgertum, als auch die Arbeiter und Gesellen. Eine Abordnung reiste nach Berlin, um der Beisetzung der gefallenen Barrikadenkämpfer beizuwohnen.
Auf dem Domplatz kamen am 22. März die Einwohner zu einer Totenfeier für die Märzgefallenen zusammen. Immer wieder kam es in der Folgezeit zur Auflehnung gegen die politischen und sozialen Verhältnisse. Insgesamt gesehen waren die Ereignisse in halberstadt aber vor allem durch Volksversammlungen und zahlreiche Resolutionen, die an den König und an die Nationalversammlung gerichtet waren, geprägt.
Aus allen Aktionen des hiesigen Bürgertums sprach die Angst vor dem im Erstarken begriffenen Proletariats als Klasse. So verrieten auch die Halberstädter Bürger die Ziele der Revolution.“
Der Hutfabrikant Heinrich Heine ist einer unter den vielen Enttäuschten. Er ist in sich gekehrt und denkt nach, was nach der Niederschlagung der demokratischen Revolution im Lande zu tun ist. So wird der Name „Heine“ zum geistigen Zentrum der Aufbegehrenden. Seinem am 10. Januar 1842 geborenen Sohn August zeigt er die wirtschaftlichen Nöte der Menschen und erzieht ihn zu einem Oppositionellen.
Aber August will die Welt kennenlernen und zieht als Wanderbursche in die Fremde. Nach zwei Jahren kehrt er voller Erfahrungen in das Elternhaus zurück. Auf seinen Reisen hatte er auch in Leipzig Ferdinand Lasalle kennengelernt. Dieser hatte am 23. Mai 1863 im Leipziger Pantheon den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gegründet. Es war die erste sozialistische Vereinigung, die sich zu einer Partei konstituierte und über den Weg in das Parlament versuchte, das Los der Menschen zu verbessern. Mit diesem Maitag des Jahres 1863 beginnt die Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Kurz danach lernte August Heine auch in Leipzig den Drechslergesellen August Bebel kennen. Beide verband fortan eine enge politische Freundschaft. Der 26. November 1863 wird dank des politischen Engagements von August Heine ein historischer Tag für die Halberstädter Sozialdemokraten. Es ist der Gründungstag des „Halberstädter  Arbeiter-Bildungsvereins“, der am gleichen Tag behördlich sanktioniert wird. Der erste Vorsitzende wird August Heine, dessen Lebensmotto „Wissen ist macht – Bildung macht frei“ hier Verwirklichung findet. Vorwiegend Handwerker und Handwerker werden Mitglieder im Bildungsverein. August Heine reist im Land umher und hält überall Vorträge. Bald wir er zum Bezirksvorsteher für den ausgedehnten Bezirk Magdeburg-Braunschweig gewählt.
Die Treffen mit Ferdinand Lassalle und August Bebel fördern die poltischen Aktivitäten von August Heine. Seine Auftritte in Halberstadt fallen auf fruchtbaren Boden.

Die aufblühende Industrie im Kreis Halberstadt, wie die Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen Friedrich Dehne, eine Eisenbahnreparaturwerkstatt (das spätere RAW) oder die Halberstädter Wurst- und Fleischwarenfabrik Heine & Co., erzeugt eine Zusammenballung von Arbeitern. In dieser Zeit, fünf Jahre nach Lasalles tragischem Tod, gründeten am 9. August 1869 August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“, die sich nach ihrem Gründungsort „Eisenacher“ nannte – im Gegensatz zu den „Lasallianern“.