1871 – 1918 – Gründung und Entwicklung der Halberstädter SPD zur Kaiserzeit

An dem Gründungskongreß in Eisenach hatte vom Arbeiterbildungsverein Halberstadt Christian Nathers teilgenommen. Begeistert vom Eisenacher Kongreß versammelte er seine politischen Freunde Hurlemann, Voigt, Bollmann, Dahlen und Wilhelm Zachrias um sich und gründete mit ihnen am 20. September 1871 eine Ortsgruppe der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Dies ist der Geburtstag der Halberstädter Sozialdemokratie.

Im Jahre 1873 stellte die Gastwirtin Johanna Bollmann geborene Robrade ihre Gaststätte der jungen SPD zur Verfügung. Unterstützt wurde sie durch ihren Mann, der als Postillion seinen Lohn nach Hause brachte. Das war für die damalige Zeit ein gewagtes Unternehmen, denn die Sozialisten waren für das herrschende Bürgertum nichts als „vaterlandslose Gesellen“.
So entstand in Halberstadt eines der ältesten – heute sogar das älteste – Parteilokal der SPD in Deutschland. Dieses Lokal, in dem sich ein großer Teil des Parteilebens abspielte, zog sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Sozialdemokratie in Halberstadt. Die ersten Männer, die sich aktiv in der SPD betätigten und eifrig Propaganda betrieben, waren Arbeiter. Diese hatten besonders in Hamburg die sozialdemokratischen Gedanken und Lehrsätze kennengelernt und standen hinter dem Gedankengut von Ferdinand Lasalle.
Im Bollmannschen Lokal wurde häufig sehr heftig diskutiert und die Propaganda fiel besonders bei den Zigarrenmachern , bedingt durch deren schlechte Arbeits- Lohnverhältnisse in den Groß- und Kleinbetrieben, auf fruchtbaren Boden. Viele von ihnen schlossen sich der jungen Partei an.
Das Eintreten für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiterschaft und die Zugehörigkeit zu den „Roten“ waren für das Bürgertum ein „Staatsverbrechen“. Viele Arbeiter verloren deshalb ihren Arbeitsplatz und lange Erwerbslosigkeit war meist die Folge.
August Heine, der gerechte Demokrat und überzeugte Republikaner, wandte sich nach der preußischen Restaurierung von 1866 bis 1871 von der „bürgerlichen Demokratie“ ab und trat nach der Vereinigung der gemäßigten „Lasallianer“ mit den „Eisenacher Marxisten“ auf dem Gothaer Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei.
Von nun an war er der unermüdliche Agitator für die Partei und die Arbeiter schenkten ihm vollstes Vertrauen. Da er aus kleinen Handwerkerkreisen stammte, kannte er die Not der Arbeiter. Von nun an sind die Namen August Heines und der Bollmanns ein unzertrennliches Gespann.
Die Partei breitete sich immer weiter aus. Sie wuchs auch unter dem Sozialistengesetz (1878 –  1890) unaufhörlich. Hausdurchsuchungen bei Sozialdemokraten waren an der Tagesordnung. Die mühsam aufgebaute illegal arbeitende Parteiorganisation wurde vielerorts zerstört. Jeden Tag hatten Sozialdemokraten und ihre Freunde mit Verhaftung zu rechnen. Viele wurden ausgewiesen oder wanderten zwangsweise nach Amerika aus.
Wegen der polizeilichen Überwachung wurden viele Akten der Parteiorganisation vernichtet. Vermutlich betraf dies auch die Gründungsurkunde!
August Heine und die Mitglieder der Bollmannfamilie hielten jeden Druck stand.
Zurückgekommen von einem Sozialistenkongreß in Paris anläßlich der Weltausstellung im Jahre 1878 suchte August Heine eine Publikationsplattform für sein Wirken. Er gründete 1879 die „Halberstädter Sonntagszeitung“. Diese Zeitung, das Organ der Ortsgruppe der SPD, erschien in einer Zeit, in der fast alle großen sozialdemokratischen Zeitungen verboten waren. Sie gewann mehr und mehr Abonnenten. Die Auflage betrug annähernd 20.000 Exemplare.
Gegen August Heine, die Gallionsfigur der Halberstädter SPD, begann ein Kesseltreiben. Wegen des Verstoßes gegen das Pressegesetz wurde er zu sechs Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt. Im Stadtgefängnis auf dem Petershof benutzte er dieses halbe Jahr für einen „Intensiv-Kurs“ in Englisch und Französisch. Die „Halberstädter Sonntagszeitung” wurde verboten.
Gleichwohl wurde er im Jahre 1880 in direkter Wahl zum Stadtverordneten gewählt und behielt das Mandat bis 1886. Seine Wahlreden mußte August Heine immer im Freien abhalten, denn die Säle blieben ihm versperrt. Nur die Lautstärke seiner Stimme erreichte die Zuhörer.
Als Versammlungsredner war er weit über Halberstadt hinaus bekannt. Der streitbare Kämpfer wurde in insgesamt 34 Gerichtsverfahren angeklagt.
Seien Genossen sind stolz auf ihn. Sie stellen ihn deshalb als Kandidaten für die Reichstagswahl 1884 auf. Nach Monaten voller Kleinarbeit auch der Halberstädter Genossen ist es geschafft – August Heine, der Halberstädter, ist sozialdemokratischer Abgeordneter im Wahlkreis Magdeburg!
Nunmehr wurde auch Bollmanns Gastsstätte zunehmend Mittelpunkt und Treff sozialdemokratischer Politiker. Übernachtungsmöglichkeiten mußten geschaffen werden, da sich die Debatten und Diskussionen bis in den frühen Morgen ausdehnten. Gern gesehene Gäste bei Bollmanns waren u.a. der Berliner Arbeiterführer Paul Singer, der geistige Kopf der SPD August Bebel, Wilhelm Hasenclever und Wilhelm Liebknecht. Die Parteiorganisation wuchs trotz des Sozialistengesetzes unaufhörlich, so daß ein bürgerlicher Chronist einräumen mußte:
„Die Sozialdemokratie hat fast überall, so auch hier in Halberstadt, viele Anhänger. Die hier seit dem 1. Juli vorigen Jahres (wieder) erscheinende Sonntagszeitung, Parteiblatt der Sozialdemokratie, findet hier einen großen Absatz und ist ihrem Inhalt her geeignet, die Unzufriedenheit der arbeitenden Klassen gegen die bestehenden Verhältnisse zu schüren.“
An anderer Stelle schreibt er:
„Die sozialdemokratische Sonntagszeitung… Gewinnt immer mehr und mehr Abonnenten, die Auflage beträgt annähernd 20.000 Exemplare. Das ist ein Umfang, den das hiesige Lokalblatt: das Intelligenzblatt, nicht besitzt und manche Provinzialzeitung nicht hat.“
Parallel zur Partei hatte sich auch die Gewerkschaftsbewegung entwickelt. Unter ihrem Dach konnten die SPD-Genossen politisch agitieren. Aus den Gesellenvereinen entstanden u.a. zwischen 1867 und 1890 in Halberstadt Gruppen des Zigarrenarbeiter-Verbandes, der Gewerkschaft der Lederarbeiter, der Gewerkschaft der Holzarbeiter, der Gewerkschaft der Metallarbeiter, der Schneidergewerkschaft, der Gewerkschaft der Schuhmacher und der Zimmerleute.
Ein Höhepunkt der Arbeit der Gewerkschaften in Halberstadt war der Vereinigungskongreß der freien Gewerkschaften 1891 im Halberstädter „Odeon“ in der Braunschweiger Straße.
In der Zeit der SED-Herrschaft wurde dieses lokale Denkmal der Arbeiterbewegung als ein Zeichen für die freie Gewerkschaftsbewegung von 1890 bis 1933 abgerissen, um alle Spuren daran zu tilgen. Nach dem Fall der Mauer konnte der 100. Gedenktag an den Vereinigungskongreß wieder in Würde und Freiheit begangen werden. Aus diesem Anlaß wurde auch eine Sondermarke der Deutschen Bundespost herausgegeben.
Als das Sozialistengesetz 1890 fiel, wurde der 1. Mai zum „Kampftag der Arbeiterklasse” erklärt. Der Einfluß unserer sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Kommunalpolitik war durch das bis zum Jahre 1918 bestehende Dreiklassenwahlrecht, bei dem offen gewählt werden mußte, sehr gering. Trotzdem gelang es bei den gemeinde wahlen 1904 in Halberstadt die Genossen Dr. Crohn und Ferdinand Gerlach in die Stadtverordnetenversammlung zu wählen. Wenn sich die zwei auch gegenüber den 38 bürgerlichen Vertretern in einer hoffnungslosen Minderheit befanden, konnten sie doch jetzt von der Tribüne des Stadtparlaments für soziale Forderungen der Arbeiterschaft eintreten.
Bei späteren Wahlen gelang es uns noch die Genossen Fritz Hellvoigt, den Tabakwarenhändler August Winter aus der Bakenstraße 50, den Wirt des Gewerkschaftshauses Hermann Bollmann und den Genossen Mykowsky in das Stadtparlament zu wählen. Nach Ausbruch des 1. Weltkrieges stimmte die Mehrheit der SPD-Reichstagsfraktion für die Kriegskredite. Aus diesem Konflikt über die politische Haltung der Partei im 1. Weltkrieg zerbrach die organisatorische Einheit der Partei. Eine oppositionelle Minderheit in der Halberstädter SPD, die Bewilligung von Kriegskrediten und die Unterstützung der Regierung verurteilte, gründete Ostern 1917 die Unabhängige Sozialdemokratische Partei (USPD). Die neu gründete , von der SPD abgespaltene USPD bekannte sich grundsätzlich zum Erfurter Programm, aber auch zum „Rätesystem“ und zur „Diktatur des Proletariats“. Vorbild wurde für viele Mitglieder die junge Sowjetmacht in Rußland. Öffentlich bekannten sich in Halberstadt Therese Hechler, Georg Hechler, Otto Rieche und Gustav Bollmann zur USPD. Auch August Heine war aus Protest gegen die Kriegspolitik von der SPD zur USPD gewechselt, kehrte jedoch bald nach Kriegsende zur SPD zurück. Als der 1. Weltkrieg zu Ende war, hatte sich die Halberstädter Arbeiterschaft bereits gespalten.
Die SPD blieb aber die bestimmende Arbeiterpartei in Halberstadt. Die aktivsten Sozialdemokraten waren in dieser Zeit: Emil Bodenstein, Hermann Bollmann, Max Bollmann, Minna Bollmann, Hermann Brüggemann, Franz Grunwald, Helene Grunwald, Fritz Lesse, Emil Müller, Franz Rose, August Schmidt, Hermann Schrader, Karl Schultze, Karl Treff und Karl Werny.