1945-1949 – Der Versuch einer neuen Demokratie in der Sowjetischen Besatzungszone

Nach jahrzehntlangem Bruderzwist fanden sich am 14. April 1945 Mitglieder der früheren SPD und KPD zusammen. Die Hitlergegner traten aus der Illegalität heraus.
Von der SPD waren u.a Paul Wille, Otto Bollmann, Fritz Schütte, Karl Dilßner, Otto Fransewitz und Erich Ibe und von der KPD u.a. Therese Hechler, Ernst Schlüter, Karl Kunze und Senta Herdam die Aktivisten der ersten Stunde!
Diese Aktivisten der ersten Stunde packten zu, um die Versorgung mit Strom und Wasser sowie mit Lebensmitteln zu sichern. Aber auch den Alten, Kranken, Ausgebombten und Obdachlosen galt die Sorge dieser Frauen und Männer. Sie linderten viel menschliches Leid.
Die Gründung eines Antifa-Ausschusses sicherte den sich im Aufbruch befindlichen Arbeiterparteien ein gemeinsames Handeln gegenüber der amerikanischen und später englischen Besatzungsmacht.
Von den bürgerlichen Parteien, die im Jahre 1933 dem Ermächtigungsgesetz für Hitler zugestimmt hatten, war nichts zu hören und zu spüren.
Auf Drängen der Sozialdemokraten wurde Richard Gerloff (SPD) am 03. Mai 1945 als Oberbürgermeister eingesetzt. Als Bürgermeister wurde Franz Kahmann (KPD) berufen. Otto Bollmann bekam wohl das schwierigste Aufgabengebiet: das Ernährungsresort. Paul Wille bekam dagegen sein Bauamt wieder.
Am 16. Juni 1945 saßen wir, die früheren Sozialdemokraten wieder im Stadtbauamt zusammen und diskutierten über die von der SPD vor 1933 gemachten Fehler. Hier ging es um die Schlußfolgerungen der Partei nach dem Staatsstreich gegen die sozialdemokratische Regierung in Preußen bei dem der Innenminister Karl Severing seinen Posten mit den Worten: “Ich weiche nur der Gewalt!“ verließ. Ein Leutnant und fünf Soldaten – das war die Gewalt!
Paul Wille schlug auf den Tisch: “Genossen! Die KPD ist wieder gegründet. Genossen, nun sind auch wir zur Gründung unserer Partei gezwungen. Diskutiert wird später!“
Mit diesen Worten wurde die SPD in Halberstadt wieder gegründet. Paul Wille wurde, wie auch vor 1933 wieder zum Vorsitzenden des Unterbezirks Halberstadt und Rudolf Köching zu seinem Stellvertreter gewählt. An der Neugründung nahmen Richard Gerloff, Paul Wille, Reinhold Eitz, Rudolf Köching, Karl Dilßner, Karl Schultze, Walter Schultze, Otto Bollmann, Otto Schmidt, Fritz Wendel und Otto Fransewitz teil.
Plötzlich erschien an der Tür ein Kurier. Er brachte eine Kopie des „Aufruf des Zentralausschusses der SPD“ aus Berlin. In diesem Programmentwurf wurde mit einem Appell an die Bevölkerung der Sowjetisch Besetzten Zone die Bildung eines Freiheitlich-Demokratischen Rechtsstaates vorgeschlagen. Otto Bollmann stellte fest: „Da haben wir den Salat. Wieder zwei Parteien und ich habe sechs Jahre im KZ Sachsenhausen zubringen müssen.“  Mit angeschwollenen Zornesardern blickte er bitterböse um sich. Stille im Raum! Nachdenkliche Gesichter ringsum! Rudolf Köching sah jeden der Reihe nach an. Dann sagte er mit fester Stimme:“Genossen! Die Würfel sind gefallen! Die Kommunisten wollen keine Einheitspartei, nicht mit uns Sozialdemokraten! Ärmel hoch, wir packen es und halten uns dabei an den Vers der Internationale, in dem es heißt – Wir sind die stärkste der Parteien -.“ Am nächsten Abend wurden die über die Naziherrschaft hinübergeretteten Statuten verlesen und gebilligt. Die Gründungsurkunde wurde von den Anwesenden unterschrieben.
In der Stadt patrouillierten noch die englischen Besatzungstruppen in dieser unruhigen Zeit. Am 1. Juli erschienen mittags die ersten Rotarmisten mit ihren Panjewagen singend und tanzend. Jetzt wurde es auch für Halberstadt zur Gewißheit, daß von nun an die Sowjets hier das „Sagen“ hatten. Die Kommunisten, die nur wenige Vertreter in der Stadt hatten, waren im Siegestaumel.
Würde es wieder einen Bruderkampf zwischen der KPD und der SPD geben?
Die Parteiarbeit lief an. Am 17. Juli 1945 wurden die Parteibüros von KPD und SPD im ersten Stockwerk der Städtischen Bücherei am Domplatz bezogen. Das vordere größere Zimmer wurde der KPD zugeteilt. Wir Sozialdemokraten mußten immer durch dieses Zimmer der KPD und wurden dabei gemustert, böse Zungen sagten, registriert.
Wehmütig blickten die alten Sozialdemokraten, die sich wieder in die Mitgliederlisten eintragen ließen, zu ihrem gegenüberliegenden ehemaligen Parteihaus, in dem sich ihre Druckerei, die das SPD-Parteiorgan „Halberstädter Tageblatt“ hergestellt hatte, befand. Es war das Grundstück Domplatz 48.
Tief besorgt um ihr Parteieigentum wandte sich die Halberstädter SPD an den Provinzialverband der SPD in Magdeburg, der am 06.11.1945 den Anspruch bei der Provinzialverwaltung in Halle anmeldete. Die Hoffnung bald in das Parteihaus einziehen zu können, wurde jedoch jäh enttäuscht. Noch kurz vor Weihnachten erreicht die Halberstädter SPD die traurige Nachricht, daß die Provinzialverwaltung unter ihrem Präsidenten Professor Erhard Hübener (FDP) und dem Vizepräsidenten Robert Siewert (KPD) entschieden hatte, das Grundstück Domplatz 48, unrechtmäßigerweise der KPD zu übereignen.
Der von der Provinzialverwaltung gefaßte Entschluß zur Enteignung der SPD führte zu dem Vorstandsbeschluß der SPD in Halberstadt, nunmehr ein bleibendes Ehrenmal für die SPD und ihre Minna Bollmann an ihrer Grabstätte zu errichten. Es wurde am 10. Todestag von Minna Bollmann am 9.12.1945 eingeweiht. Es trägt noch heute, versteckt hinter überwucherndem Grün die Zeit der SED-Diktatur überdauert, das Emblem der nach 1945 und 1989 neugegründeten Sozialdemokratischen Partei und die Inschrift „Minna Bollmann 1876 – 1935″.
Noch während des Krieges also noch in der Nazizeit waren die Sozialdemokraten und Kommunisten im Gartenverein „Süd“ einer Meinung, daß nur eine demokratische Arbeiterpartei entstehen dürfte. Aber unter Protektion der sowjetischen Militärverwaltung (SMAD) hatten die Kommunisten ihren Weg zur kommunistischen Diktatur begonnen.
Die SPD kämpfte daher allein für die neue Demokratie, wie schon in der Weimarer Zeit. Nach fünf Monaten Organisationsaufbau hatte die SPD in Halberstadt schon über 2000 Mitglieder.

Ab Oktober 1945 begann die KPD nunmehr unterstützt von der SMAD einen „Einheit-Propaganda-Feldzug“, um die erstarkende SPD in der Ostzone unter ihre Kontrolle zu bringen. Die „Vereinigung“ der Arbeiterparteien wurde von KPD und SMAD gemeinsam geplant, organisiert und wie die KPD-Leute sagten „durchgezogen“. Es wurde ein „Vereinigungs-Fahrplan“ vorgeschrieben, der für Halberstadt folgende Aktivitäten vorsah:

31.12.1945 Entsendung von je 15 Delegierten/Partei zur paritätischen Bezirkskonferenz in die Palast-Lichtspiele Magdeburg
17.03.1946 Getrennte Kreiskonferenzen und anschließenden gemeinsame Tagung
30.03.1946 Bezirksvereinigung in Magdeburg.
Die KPD tagte am 17. März vormittags im „Altstadtgarten“, während sich die SPD in der Aula des Mädchen-Lyzeums (heute Käthe-Kollwitz-Gymnasium und nach der Wiedergründung der SPD in Halberstadt 1990 Versammlungsort der neuen SDP/SPD) versammelte. Die gemeinsame Tagung fand am Nachmittag mit ca 300 Teilnehmern in der Gaststätte „Elysium“ statt. Unter dem Druck der Ereignisse und aus den Erkenntnissen aus der Zeit der Weimarer Republik und des Fachismus fand sich unter den Anwesenden eine Mehrheit für die Einheit beider Parteien.

Viele Sozialdemokraten enthielten sich der Stimme. Gezeichnet von der vorhergegangenen schrecklichen Nazidiktatur und eingeschüchtert durch den Druck durch die SMAD und ihre stalinistische Geheimpolizei fanden sich nur wenige SPD-Genossen in der Ostzone bereit, gegen die „Vereinigung“ zu stimmen.

Karl Dilßner schildert in seinem Tagebuch: “ Meine Gedanken waren während des Absingens des Liedes bei dem mutigen Otto Fransewitz und bei vielen anderen SPD-Mitgliedern, die sich der Stimme enthalten hatten und die auch ihr SPD-Buch nicht abgegeben hatten, um es mit dem Stempel – UNGÜLTIG – versehen zu lassen. Ich hatte es erlebt, wie im Südbezirk Halberstadt von 124 SPD-Mitgliedern nur 26 ihr Parteibuch zum Umtausch gegen ein SED-Mitgliedsbuch abgegeben hatten. Auch ich wurde Mitglied der SED in meiner Eigenschaft als Vorsitzender der Konsumgenossenschaft Halberstadt, gab aber mein SPD-Parteibuch nicht ab und habe es so unbeschädigt in die Gegenwart gerettet.“
Noch vor der „Vereinigung“ der beiden Arbeiterparteien wurde in Halberstadt die Konsumgenossenschaft gegründet. Von der SPD wurden Karl Dilßner und Walter Schultze für den paritätischen Vorstand gewählt. Die KPD benannte Artur Tischler und Heinz Eichler, die aber später ihre Ämter wegen Unterstützung von ehemaligen SS-Männern bzw. wegen Unfähigkeit niederlegen mußten. Der richtige Weg der Sozialdemokraten wurde auch durch die Aufnahme des Genossen Fransewitz in den Vorstand bewiesen. Den ehemaligen SPD-lern im Vorstand gelang es 38 Verkaufsstellen zu schaffen, ohne, wie von der SED gefordert, vorhandene Einzelhändler zu enteignen.
So wurde am 17. März 1946 in Halberstadt durch Demagogie und Druck die SED ins Leben gerufen und zum Synonym für die Einheit der Arbeiter gemacht.

Es wurden zwei paritätisch arbeitende Parteisekretäre für ein Jahr gewählt. Nach Ablauf dieses Jahres sollte es dann nur noch ein „klassenbewußter“ Genosse sein. Da der SPD-Sekretär Fransewitz nicht zur Verfügung stand, dauerte es lange bis ein SPD’ler als „Verschmelzungssekretär“ gefunden wurde. Am Ende wurde von der KPD Walter Bergemann nominiert und für die SPD stellte sich Erich Tschurn zur Verfügung. Von ihm wußte man, daß er ehrenamtlicher Mitarbeiter der GPU, der Sowjetischen Geheimpolizei war, deren Domizil sich im Spiegelsbergenweg/Ecke Beethovenstraße befand.

Zwei Tage nach dieser „Vereinigung“, also am 19. März 1946, wurde Otto Fransewitz zum GPU-Quartier bestellt. Er verbrachte dort eine Nacht zwecks „Vernehmung“. Am nächsten Tag lief er mit blutunterlaufenen Augen und Schmarren an den Wangen herum. Diese Erziehungsmethode wollten viele Sozialdemokraten nicht über sich ergehen lassen und zogen das „Stillschweigen“ und „Anpassen“ vor.
Mit der „Vereinigung“ zur kommunistischen SED begann theoretisch aber auch praktisch die „Diktatur des Proletariats“ als Nachfolgerin der vorher so gepriesenen „Antifaschistisch-Demokratischen Ordnung“. Die zeigte sich überall, auch in Halberstadt, dass sozialdemokratisch denkende und sich äußernde Mitglieder beobachtet wurden, besonders seitdem Dr. Kurt Schumacher der neuen SPD in Hannover vorstand.
Kurt Schumacher hatte in Hannover erklärt: “Der Wille fast aller Mitglieder der SPD in der russischen Zone geht dahin, eine unhabhängige und selbstständige Sozialdemokratische Partei zu erhalten!“ Wir erfuhren weiter, daß im Mai 1946 das „Ost-Büro der SPD“ gegründet wurde, da bereits vom Dezember 1945 bis zum April 1946, also vor dem „Vereinigungsparteitag“, mindestens 20.000 Sozialdemokraten in der SBZ gemaßregelt, aus ihren Wohnungen und Arbeitsplätzen verjagt wurden und für kürzere oder längere Zeit inhaftiert wurden, wie unser Genosse Karl Schultze in Halberstadt. Einige wurden sogar getötet. So wurden vier SPD-Sekretäre in Rostock verfolgt und unterdrückt. Einer von ihnen wurde ermordet und zwei wurden verhaftet und verschleppt. Niemand sah sie jemals wieder!
Auch in den Diskussionen in der Kreisparteischule wurden die Sozialdemokraten als „Schuhmacher-Agenten“ entlarvt, wenn sie eine Maßnahme der Kommunisten und der sowjetischen Besatzungsmacht anzweifelten und kritisierten. In der Parteischule wurden die Sozialdemokraten einer Gehirnwäsche unterzogen.