Wenn Bürger plötzlich reisen dürfen

Es war der Satz des Jahrhunderts. “Bürger, Sie dürfen reisen”, sagte der Grenzoffizier – und dann stand Bürger Dr. Jürgen Otto im noch wenige Stunden zuvor auf einem fremden Planeten liegenden West-Berlin. “Wo warst du am 9. November 1989?”, dieses derzeit besonders beliebte Gesellschaftsspiel spielte auch die Halberstädter SPD an ihrem Donnerstags-Stammtisch.

Gut 15 Sozialdemokraten waren ins “Papermoon” gekommen, um sich gemeinsam mit dem Landtagsabgeordneten Gerhard Miesterfeldt an die bewegten Zeiten zu erinnern. Miesterfeldt selbst hatte den Mauerfall in Stendal erlebt. Oder verschlafen, um genau zu sein, er lag krank im Bett. Doch die anderen Stammtischler, ältere Semester zumeist, waren die Wendezeit über in Halberstadt, und hatten viel zu berichten. Und zwar nicht nur über die Gründung des SPD-Vorläufers SDP, aber auch darüber.

Rosemarie Lauenstein etwa. Sie war am 7. November 1989 in die damalige SDP eingetreten und gehört damit zu den Sozialdemokraten der ersten Stunde. In den Wochen vor dem Mauerfall habe es noch einen großen Zusammenhalt gegeben, doch bald gab es einen Dämpfer, erinnert sie sich: “Alles fiel nach dem 9. November auseinander. Die fuhren alle nach drüben.”

In den Wochen zuvor war es allerdings auch in Halberstadt bewegt zugegangen. Ein Teilnehmer der Stammtischrunde erinnert sich noch gut an seine Gefühle beim Friedensgebet Anfang Oktober in der Martinikirche: “Als die Tür aufging, hatte ich eine Wahnsinnsangst.” Doch es blieb die ganzen Monate über friedlich, der Slogan “Keine Gewalt” wurde in der ganzen DDR Realität.

Das hatte Gründe, wie Miesterfeldt zu Beginn der Runde anmerkte: Es gab jene, die “Keine Gewalt” gerufen haben, aber auch jene, die ab einem gewissen Zeitpunkt keine Gewalt mehr angewandt haben. Wohl auch, weil sie nicht wollten, wie ein Teilnehmer anmerkte. In einer Versammlung der Betriebskampfgruppen am 4. Oktober sei einer aufgestanden und habe gesagt: “Ich werde doch nicht auf meine Frau und meine Tochter schießen.” Von diesem Moment an seien die Kampfgruppen nicht mehr einsetzbar gewesen, so die einhellige Einschätzung.

Doch auch die andere Seite hätte Gewalt anwenden können. Thomas Handrick berichtete von der Reaktion Jugendlicher nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Chinas Hauptstadt Peking 1989. “Mit uns nicht”, sagten Handrick und seine Freunde und bastelten Molotow-Cocktails. Zu deren Einsatz kam es zum Glück nicht, und so konnte Miesterfeldt 25 Jahre danach den Abend mit einem aktuellen Thema beschließen: War die DDR ein Unrechtsstaat? Ja,das war sie, sagte er: “Aber noch viel mehr war sie ein Willkürstaat.”

(Quelle: Text – Volksstimme, Foto: Peter Köpke )

pm

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